Der „Dopamin Tradeoff“ und die Digitalisierung

Was ist da eigentlich in den Kindergärten los?

Vor allem in sonderpädagogischen Kindergärten landen heute immer häufiger Kinder, die ein Phänomen zeigen, dass man im Alltag auch ausserhalb der Sonderschulen beobachten kann. Diese Kinder in der Sonderschule haben es in einer viel stärkeren Form: Es sind Kinder mit einer Autismusspektrumsstörung (im Folgenden ASS genannt), die starkes Suchtverhalten nach Smartphones oder Tablets zeigen. 

Es nimmt teilweise extreme Formen an, wenn diese Kinder auf das Smartphone verzichten sollen: Einige schreien oder lautieren. Fast alle haben einen enormen Bewegungsdrang, laufen herum oder rennen gar davon. Manche sind aggressiv gegen sich selbst oder gegen ihre Betreuungspersonen. Es sind echte Krisensituationen, die sich in manch einem Schul- oder Kindergartenzimmer abspielen.
Wie lässt sich das erklären? Was bedeutet das für Kinder ohne ASS?

Gestresste Kinder

Man kann verstehen, dass es für Eltern oft sehr schwierig ist, ein Kind mit ASS zu Hause zu haben: Die Kinder nehmen von sich aus selten bis gar nie Blickkontakt auf, sie zeigen oft kein soziales Lächeln, was die Eltern zutiefst verunsichert. Stattdessen zeigen sich die Kinder oft unruhig und reizbar. Das liegt vor allem daran, dass sie in ihrer Wahrnehmung regelrecht von Reizen überflutet werden. Was für uns „normal“ laut oder hell oder fest (taktile Wahrnehmung) ist, kann für Kinder mit ASS viel zu viel sein: Es ist ihnen zu laut, zu hell und der Druck auf der Haut gibt ihnen eine diffuse, wenig differenzierte Empfindung.

Darüber hinaus ist für Kinder mit ASS das soziale Zusammenleben sehr anstrengend, weil es für sie nicht klar ist, wie es funktioniert: Bei Messungen der Gehirnaktivität von Menschen mit ASS lässt sich beobachten, dass ihre Spiegelneurone kaum aktiv werden: Die Spiegelneuronen haben die Aufgabe, die Stellung der Muskulatur (z.B. die Gesichtsmuskeln) unseres Gegenübers zu beobachten und gedanklich zu analysieren: Wie fühlt sich diese Stellung der Gesichtsmuskeln für die Person an? Diese Analyse ist für Menschen mit ASS kaum möglich. Für sie ist das soziale Zusammenleben aufgrund der fehlenden Informationen wenig vorhersehbar. Fehlende Vorhersehbarkeit ist ein Faktor, der viel Stress verursacht.

Was sollen die Eltern tun? Es entsteht eine sehr belastende Situation in diesen Familien. Da ist es für viele Eltern ein Segen, wenn sie mit Hilfe des Smartphones für ein wenig Beruhigung sorgen können. Das funktioniert eigentlich immer. Es ist für die Kinder interessant, vorhersehbar und man muss nicht in eine anstrengende soziale Situation eintreten.

Es hilft, sich auf ein Spiel oder Video auf dem Tablet oder Smartphone zu fokussieren. Dabei geht es oft nicht um den Inhalt. Man kann oft beobachten, dass die Kinder ein Video nach dem anderen immer weiterwischen oder ständig das Spiel wechseln. Man kann auch sagen, sie sind auf der Jagd nach etwas. Dopamin ist das Hormon, dass im Gehirn das Jagdverhaltenbefeuert: Das nächste Video, das nächste Spiel könnte noch interessanteer sein. Das Gehirn verspricht sich einen Kick davon. Dopamin wird ausgeschüttet. Dopamin sorgt ausserdem dafür, dass Gefühle von Stress und der Angst wesentlich weniger bedrohlich wirken. Es ist einfach ein gutes Gefühl mit Dopamin im Blut. Je intensiver die Jagd desto besser fühlt es sich an.

Nimmt man den Dopamin Generator – z.B. ein Smartphone – weg, dann ist einerseits der Stress schnell wieder da und der Dopamin Level sinkt dazu schnell unter Normal Level. Das ist zu viel für die gestressten Gehirne dieser ASS Kinder. Es kommt zu heftigen emotionalen Ausbrüchen. Es ist einfach viel zu wenig Dopamin da, dafür viele Stresshormone.

wie die Schwellenwerte für Dopamin verändert werden

Was passiert , wenn immer wieder ein grosse Menge Dopamin ausgeschüttet wird? Zunächst fühlen wir uns sehr gut. Doch dann gibt es einen Gewöhnungseffekt: Die Neuronen, die Dopamin aufnehmen, werden sich an die grossen Mengen an Dopamin anpassen.

Es tritt schon bald ein Gewöhnungseffekt ein, der sich immer weiter fortsetzt. Der Schwellenwert (die Menge an Dopamin) den die Synapsen brauchen, um reagieren zu können, wird nicht mehr erreicht. Stattdessen warten die Sensoren auf eine höhere Dosis an Dopamin.

Kommt endlich eine genügend hohe Dosis an Dopamin, folgt das nächste Problem direkt nach. Die gleiche Menge an Dopamin, die gestern noch einen richtigen Flash ausgelöst hat, wirkt heute nicht mehr so toll. Wir sollten etwas mehr Dopamin haben. Vielleicht könnten wir die Dosis etwas nach oben korrigieren.

Der Effekt zieht noch weiteres Unheil nach sich: Dopamin hält nicht lange und der Anteil an Dopamin im Blut wird sinken. Der Dopamin Level wird tiefer, als er normalerweise wäre, sinken. Das Gehirn erkennt irgendwann den zu tiefen Anteil und korrigiert den Dopamin Level wieder auf «Normal». Der Vorgang der Normalisierung des Dopamin Levels nach einer starken Störung des Gleichgewichts braucht etwas Zeit. Gleichzeitig sind die Sensoren für Dopamin weniger empfindlich geworden, sie werden das Gehirn also weniger für die kleinen Freuden des Alltags belohnen.

All das fühlt sich wirklich schrecklich an. So fühlt sich eine selbstgemachte Depression an. Wenn es nun einen Weg gibt, den Dopamin Level schnell wieder ansteigen zu lassen, ist der sehr verlockend. Nicht das Hochgefühl ist das Problem, sondern der Zustand, wenn es vorüber ist.

Es ist dieser Zusammenhang zwischen Dopamin und Suchtverhalten, der digitale Medien zur Gefahr werden lässt. Dopamin befeuert das Lernen, die Auseinandersetzung mit der Umwelt. Das gilt auch für Kinder ohne ASS: Wenn es eine viel stärkere und attraktivere Alternative gibt, sich Dopamin zu verschaffen, werden manche Kinder sie bevorzugen. Wenn Kinder die Wahl haben, raus zu gehen und zu spielen oder etwas Interessantes am iPad zu machen, wählen sehr viele das iPad.  Es bietet mehr Dopamin bei weniger Arbeit für das Gehirn. Das macht das Gehirn kohärent. Es fühlt sich gut an.

Der «Dopamin Tradeoff»

Da unser Gehirn auf digitale Inhalte häufig sehr motiviert anspringt, produziert es viel Dopamin, um sich darauf fokussieren zu können. Es ist motiviert – verspricht sich also einen Gewinn davon, sich mit dem Medium zu beschäftigen. Ein häufig hoher Level an Dopamin im Blut wird dazu führen, dass die Rezeptoren sich daran gewöhnen. Die Menge an Dopamin im Blut muss hoch sein, denn so sind es die Rezeptoren nach einiger Zeit gewöhnt. Wenn wir nun versuchen, zu lernen, auf die altmodische Art – in einer Schule vielleicht – erzeugt das möglicherweise nicht die erhoffte Menge an Dopamin.

Der «Dopamin Tradeoff» (link zum Blogbeitrag) beschreibt das Zusammenspiel zwischen den Rezeptoren für viel Dopamin und denen für wenig Dopamin. Wenn wenig Dopamin im Blut ist, kommt es nicht zu einer Fokussierung auf ein Thema oder eine Aktivität. Alle aufgenommenen Informationen werden mit der gleichen Priorität behandelt. Das bedeutet, mit wenig Dopamin im Blut ist man leicht ablenkbar. Bei leicht ablenkbaren Kindern und Jugendlichen kann es viele Ursachen geben. Eine, die man immer häufiger findet, ist hoher Medienkonsum.

Mit welchen Mengen an Dopamin kann sich ein Mensch den Tag über versorgen? Oft werden Sie bei leicht ablenkbaren Menschen Hinweise auf einen hohen Konsum von Spielen, Videos oder ähnlichem finden. Der Schwellenwert – also die Menge an Dopamin, die nötig ist, um sich fokussieren zu können, wird von solchem Verhalten hoch gesetzt. Das normale Leben ist oft weniger attraktiv als digitale Inhalte. Es wird weniger Dopamin ausgeschüttet, als notwendig wäre, um sich fokussieren zu können.

Das lässt sich in vielen Kindergärten gut beobachten: Es gibt eigentlich in jeder Gruppe Kinder, die nicht selbst ins Spielen kommen: Sie laufen herum, fangen mal dies an und mal das, alles scheint nicht interessant genug für sie. Aus der Perspektive des Gehirns kann man sagen, es gibt nicht genug Dopamin, um sich in etwas vertiefen zu können. Wenig Dopamin verursacht genau diesen „Scanningmodus“: Alles im Blick behalten, nichts verpassen.

Ist es ADHS? 
Es gibt Menschen, für welche die Reizschwellen für Dopamin bereits von Geburt an schwer zu erreichen sind. Sie sind in der Folge ebenfalls stark ablenkbar. Das sind Menschen mit ADHS. Es sind zwar ähnliche Effekte im Gehirn, aber Menschen mit ADHS hatten nie eine andere Wahl: Ihr Gehirn wurde so angelegt.

Was nun?

Um mit den Ablenkungen durch digitale Medien dennoch lernen zu können, braucht es «Dopamin Management», also einen kontrollierten Umgang damit. Es ist unrealistisch, Dopamin fördernde Medien einfach zu verbieten. Das Timing hingegen könnte interessante Optionen bieten: Wir können das Verlangen nach Dopamin mit dem Lernen verbinden.

Wenn Dopamin fördernde Geräte nichts zum Lernen beitragen können, sind sie hinderlich. Möglich wäre aber folgende Verabredung vor diesem Lernprozess: Wenn jemand sich fokussieren konnte, also Dopamin eingesetzt hat, um zu lernen, kann es eine Zeit geben, in der die Ablenkung zugelassen ist. Die Spiele und  Videos werden auch dann wieder den Dopamin Ausstoss stimulieren. Aber es war nun Arbeit im Vorfeld nötig, um es zu bekommen. Jetzt haben die Spiele die Funktion einer Belohnung. Als Verstärker mobilisiert das Gehirn nach solch einer Anstrengung daher das Hormon Serotonin. Ein Glückshormon. Es wird dafür sorgen, dass das Verhalten, dass zu dem Ausstoss von Dopamin und Serotonin geführt hat, wiederholt wird. Glückshormone sind ideal, um erfolgreiches Verhalten zu verstärken.

Langfristig kann so der Zustand, dass Dopamin auch tatsächlich zum Lernen aufgewendet wird, gefestigt werden. Vorfreude ist die schönste Freude und der stärkste Auslöser von Dopamin ist die Vorfreude. Wenn der präfrontale Kortex einen Sinn darin sieht, Energie in die Konzentration auf eine Arbeit zu investieren, wird er es eher tun, wenn er keine „Abkürzung“ in Form von Medienkonsum zur Verfügung hat.

Wir müssen die Geräte bewusst verwenden: Wir können sie beim Lernen verwenden, dann ist das Dopamin am richtigen Ort. Eine App kann Kompetenzen vermitteln und Fertigkeiten intensiv üben. Das gilt leider nicht für alle Lernapps, doch die Auswahl an Apps, die diese Kriterien erfüllen, wächst stetig. Eine Dokumentation, ein Spiel, kann vielfältig und motivierend Wissen vermitteln. Warum nicht auf digitale Inhalte zurückgreifen? Die Verknüpfung zwischen Motivation und Dopamin ist erfolgsversprechend.

Wenn bei der Nutzung digitaler Medien in schneller Folge das Video / das Spiel gewechselt wird und sichtbar wird, dass gar keine Auseinandersetzung mit dem Inhalt stattfindet, wenn also das Jagdverhalten nach immer neuen Kicks überhand nimmt, wird es schwierig: Die hohen Konzentration an Dopamin kann einen Gewöhnungseffekt auslösen, der sich nachhaltig auf alle Bereiche des Lebens auswirken wird. Die Ursache für starke Ablenkung bis hin zu aggressiven Reaktionen bei scheinbar nichtigen Anlässen liegt bei diesen Menschen wahrscheinlich in dem Ungleichgewicht der Hormone, die unsere emotionale Situation ausmachen: Zu viel Stresshormone, zu wenig Dopamin und damit auch zu wenig Serotonin (das Glückshormon), was emotional stablilsieren könnte.

Was heisst das für den Alltag?

  • Digitale Medien machen nicht automatisch süchtig. Sie haben das Potential dazu. Den Umgang damit muss man lernen.
  • Smartphones und Tablets als Verstärker des Arbeitsverhaltens funktioniert am ehesten dann, wenn vorher Dopamin ausgeschüttet wurde, um die Belohnung zu bekommen. Die Fokussierung bringt die Belohnung.
  • Wird die Dopamin Menge, die ein Mensch am Tag durch digitale Medien erzeugen kann zu hoch, treten langfristig Konzentrationsstörungen auf. «Dopamin Detox» wird in den kommenden Jahren ein wichtiges Thema werden. Die Dopamin Rezeptoren müssen dann wieder auf normale Werte „eingestellt“ werden.

Die Evaluationsschlaufe

der präfrontale Kortex, Teil 2

In Kürze:

Aus der Geschichte von Phineas Gage können wir erahnen, wie entscheidend unsere Persönlichkeit vom präfrontalen Kortex beeinflusst wird. In diesem Teil möchte ich darauf eingehen, wie der präfrontale Kortex unser Bewusstsein gestaltet. Das Verständnis davon ermöglicht uns, die Interaktion mit anderen Menschen besser an die Bedürfnisse ihrer präfrontalen Kortexe anzupassen.

Aus Frankreich kommt eine Theorie des Bewusstseins, die für das Verständnis von uns selbst und den Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben, einige Konsequenzen hat.

Man kann leicht an sich selbst beobachten, dass es im Gehirn eine Art Autopilot gibt. Immer wenn wir etwas machen, dass wir oft machen, geht das weitgehend automatisch.

Das beste Beispiel ist Autofahren: Ein Autofahrer kann nach kurzer Zeit nicht mehr beschreiben, was er eben noch gesehen hat, das Bild ist schon wieder weg. Trotzdem ist dieser Autofahrer (hoffentlich) in der Lage, eine Gefahrensituation zu erkennen und bewusst eine Reaktion darauf einzuleiten. Wie geht das?

S. Dehanae und L. Naccache (2001), zwei französische Gehirnforscher, haben dafür folgende Erklärung: Es gibt im präfrontalen Kortex eine Instanz, die sammelt Informationen: Alle Wahrnehmungen der Sinne werden dort aufgenommen, der Zustand der Körpermotorik, Informationen aus allen Teilen des limbischen Systems über die emotionale Befindlichkeit, Erinnerungen, etc. Der eintreffende Datenstrom wird in einer ständigen Evaluationsschlaufe überprüft. Wird die vorgefundene Situation und die eigene Interaktion darin in dieser Evaluationsrunde als „nicht bemerkenswert“ eingestuft, verfällt die Information direkt wieder. Es gibt schon wieder neue Daten, die hereinkommen und bearbeitet werden müssen.

Dieser Evaluationsprozess findet nach Dehanae und Naccache (2001) ausserhalb unseres Bewusstseins statt. Das bedeutet, dass es Dinge gibt, die nicht bewusst von uns wahrgenommen werden: Es ist all das, was nicht im Arbeitsspeicher landet.

Das könnten auch die Hintergründe und Motivationen für unser eigenes Verhalten sein, weil sie irgendwo in der Erinnerung, ausserhalb unseres Bewusstseins, gepseichert wurden. Unser eigenes alltägliches Verhalten macht für unseres präfrontalen Kortex Sinn. Etwas, dass schlüssig erscheint – also einen Sinn hat – ist in der Evaluation nicht auffällig.

Unser eigenes Verhalten und alles, was dazu geführt hat, dass wir es so zeigen, findet in der Regel ausserhalb dieser Evaluationsschlaufe statt. Es kommt nicht in den Arbeitsspeicher. Im Arbeitsspeicher landen eher die Reaktionen, die wir auf unser Verhalten wahrnehmen. Im Arbeitsspeicher landet das, was uns nicht schlüssig erscheint – etwas unerwartetes. Etwas, von dem wir vielleicht den Sinn verstehen wollen. Etwas, dass uns Inkohärent macht.

Im unten dargestellten Beispiel möchte sich jemand eine Telefonnummer merken. es gibt eine emotionale Erregung aus dem limbischen System: «Merk dir ja diese Nummer, das ist wichtig! » Nun muss die Aufmerksamkeit fokussiert werden.

Der präfrontale Kortex schickt ein Signal an das limbische System, in eine Region, die manchmal als die «schwarze Substanz» bezeichnet wird. Diese Region schüttet Dopamin aus. In der direkten Folge werden Dopamin Rezeptoren das gesamte Nervensystem auf das Problem fokussieren. Jetzt ist die Information im Arbeitsspeicher. Alles, was an Daten verfügbar ist, wird nun analysiert und vom Bewusstsein bearbeitet. Die Übertragung der Daten in den Arbeitsspeicher stellt nach dieser Theorie das Bewusstsein her.

Um die Telefonnummer im Gedächtnis speichern zu können, muss sich die Person in unserem Beispiel Mühe geben: Wahrscheinlich wiederholt sie die Nummer in Gedanken immer wieder, um das Gedächtnis zu überzeugen, dass es diese Nummer wirklich speichern muss.

Im Zustand der Kohärenz (mehr dazu im Beitrag „Kohärenz ), wenn also für das Gehirn alles ohne Anstrengung abläuft, gibt es eine geringe Auslastung des Arbeitsspeichers. Das ist ein effizienter Mechanismus, denn das Gehirn muss Kapazität haben, wenn wirklich ein Problem auftritt. Es ist nicht nötig und nicht gesund, immer auf voller Leistung zu laufen.

Durch die geringe Auslastung gibt es keine Notwendigkeit, grosse Mengen an Dopamin auszuschütten. Die Fokussierung des Bewusstseins ist in der Folge gering. Dinge, die unter dem Einfluss von Dopamin immens wichtig erschienen, sind nun mit anderen Details der bewussten Wahrnehmung gleichgestellt. Die Masse der eintreffenden Informationen gelangt gar nicht erst in den Arbeitsspeicher und wird damit nicht bewusst wahrgenommen. So geschieht es beim Autofahren: Wir erinnern und bruchstückhaft an einzelne Details der Fahrt. Vor allem die Dinge, auf die wir Aufmerksamkeit richten mussten, bleiben in Erinnerung. Der Rest der Fahrt gerät weitgehend in Vergessenheit.

Das hat Konsequenzen für das Verständnis des Verhaltens von Menschen: Grosse Teile des alltäglichen Verhaltens finden ausserhalb des Bewusstseins statt. Wir verhalten uns so, weil wir es schon immer so gemacht haben. Der Beginn, etwas anders machen zu wollen, liegt nach dieser Theorie des Bewusstseins in dem bewussten Vorgang, sich möglichst viele Informationen – oder Einsichten – über den Arbeitsspeicher in das Bewusstsein zu holen.

Wenn das eigene Verhalten für den präfrontalen Kortex Sinn macht, gibt es für ihn eigentlich keinen Grund, das zu reflektieren.

Wenn man den Gedanken weiterführt, stösst man wieder auf die Strategien, die der präfrontale Kortex verfügbar hat, um möglichst sparsam aus dem Zustand der Inkohärenz wieder in den Zustand der Kohärenz zu kommen (mehr dazu im Beitrag „Kohärenz ).

Es gibt demnach zwei Faktoren, die wir beachten müssen, wenn wir die Arbeit des präfrontalen Kortex zu beeiflussen versuchen:

  1. Es muss etwas sein, dass in der Evaluationsschlaufe wahrgenommen und in den Arbeitsspeicher geladen wird.
  2. Es kann sein, dass der präfrontale Kortex auf die Inkohärenz mit einem Verhaltensmuster reagiert, mit dem er möglichst schnell Kohärenz herstellen möchte.

Mit dem präfrontalen Kortex zu arbeiten ist ein spannendes Thema, für das ich noch weitere Blogbeiträge brauchen werde, denn das Thema ist umfangreich. Im nächsten Beitrag werden wir die Faktoren untersuchen, die den präfrontalen Kortex ansprechen und motivieren können.

Was heisst das für den Alltag?

  • Im Alltag läuft das Gehirn oft in einer Art Autopilot Modus
  • Bewusst wird Verhalten erst, wenn es in den Arbeitsspeicher gelangt. Dazu muss es in der Evaluationsschlaufe als wichtig markiert werden. Reaktionen, die der Evaluationsschlaufe mitteilen können, dass in den Arbeitsspeicher muss, haben eine gewisse Intensität, damit sie in der Wahrnehmung herausstechen.
  • Inkohärenz ist die Chance auf langfristige Auseinandersetzung. Verhaltensänderung und Persönlichkeitsentwicklung sind die Folge von wahrgenommener Inkohärenz.
  • Will man ein Verhaltensmuster wirklich ändern, muss das Verhalten eine wiederkehrende Inkohärenz auslösen. Man muss sich bewusstmachen, dass dies für alle Beteiligten eine kräftezehrende und intensive Arbeit ist.

Januar 2025 Andreas Illenberger

weiterführend:

Dehanae und Naccache (2001): Towards a cognitive neuroscience of consciousness: Basic evidence and a workspace framework.

Die Geschichte von Phineas Gage

der präfrontale Kortex, Teil 1

Im Zuge meiner Recherche über die Zusammenhänge des menschlichen Gehirns bin ich auf diese eindrückliche Geschichte gestossen, die ich hier teilen möchte. Antonio Damasio, ein bekannter amerikanischer Hirnforscher hat sie veröffentlicht:

Im Sommer 1848 war Phineas Gage damit beschäftigt, Eisenbahngleise für eine amerikanische Eisenbahngesellschaft zu verlegen. Er war 25 Jahre alt und hatte es schon zum Vorarbeiter eines grossen Bautrupps gebracht. Er wurde von den Direktoren der Eisenbahngesellschaft als tüchtiger und fähiger Mann beschrieben. Er erledigte seine Arbeit überaus gewissenhaft und verantwortungsvoll. 
Bei der Vorbereitung einer Sprengladung kam es eines Tages aber zu einem schrecklichen Unglück: Die Sprengladungen wurden mit Hilfe einer Eisenstange in vorgebohrte Löcher geschoben. Ein Funke zündete die Sprengladung viel zu früh und die Eisenstange schoss aus dem Bohrloch heraus. Sie drang in Phineas Gages´ Wange ein und trat aus seinem Schädel wieder aus. 30 Meter weiter fiel sie zu Boden. Blut und ein Teil von Phineas Gage’s präfrontalem Kortex klebten daran.
Zunächst sah es aus wie ein Wunder, denn Gage überlebte das schreckliche Unglück. In seinem Schädel klaffte ein grosses Loch und Teile seines Hirns fehlten, aber er erholte sich rasch (hier gibt es Fotos von Phinaes' Verletzungen auf Wikipedia).
Nach der akuten Phase seiner Hirnverletzung wurde aber schnell klar, dass etwas nicht stimmte: Ein Arzt notierte, Gage sei «launisch, respektlos, flucht manchmal auf abscheulichste Weise, was früher nicht zu seinen Gewohnheiten gehörte, erweist seinen Mitmenschen wenig Achtung, reagiert ungeduldig auf Einschränkungen und Ratschläge, wenn sie seinen Wünschen zuwider laufen, ist gelegentlich entsetzlich halsstarrig und doch launenhaft und wankelmütig, macht ständig Zukunftspläne, die er, kaum gefasst, schon wieder fallenlässt…» (Damasio, 2010, S.30).
Seine Anstellung bei der Eisenbahn verlor er schon bald, weil er nicht mehr in der Lage war, seine Führungsaufgabe auszuführen. Sein ungezügeltes Temperament und seine Impulsivität machen es ihm schwer, eine Arbeit längerfristig auszuführen. Irgendwann landete er bei einem Zirkus, der kuriose Menschen zur Schau stellte. Es war ein stetiger Abstieg. Der Mann, der in gesundem Zustand eine glänzende Zukunft vor sich hatte, wurde über die Jahre zu einem krakeelenden Trinker, so wird es zumindest in der Überlieferung dargestellt. Schliesslich starb er, 13 Jahre nach dem Unglück, an starken epileptischen Anfällen – vermutlich eine Folge seiner Verletzung.

Die Geschichte von Phineas Gage zeigt , welche herausragende Stellung der präfrontale Kortex in der Steuerung des Verhaltens haben muss. Es gibt noch andere Beispiele von Menschen, die im Bereich des präfrontalen Kortex einen Tumor hatten und daraufhin gleiche oder zumindest sehr ähnliche Symptome zeigten.

Aus der Evolution des Menschen lässt sich ableiten, dass der präfrontale Kortex zuerst die Funktion hatte, das Sozialverhalten der Menschen in der Gruppe untereinander zu steuern. Viele Errungenschaften der menschlichen Kultur setzten voraus, dass jemand sich angemessen verhielt und die Regeln und Gebräuche in einer Gemeinschaft einhalten konnte. (Sapolsky, 2011/2, min 23.00, f.)

Im präfrontalen Kortex laufen die Informationen über die Situation, für die ein angemessenes Verhalten benötigt wird, zusammen. Dabei wird er stark vom limbischen System beeinflusst, fast jede Situation ist auf die eine oder andere Art emotional beladen. Es besteht eine sehr hohe Dichte an Verknüpfungen von allen Bereichen des limbischen Systems zum präfrontalen Kortex, die direkten Einfluss auf das Verhalten haben.          

In den folgenden Artikeln werde ich die wichtige Arbeit des präfrontalen Kortex weiter beleuchten.

Dezember 2024 Andreas Illenberger

weiterführende Artikel:

Spektrum der Wissenschaft: Phineas Gage

Neuropsychologischer Ratgeber: Was ist Persönlichkeit? Das Fallbeispiel Phineas Gage

GEO: Eine Stange durchschlug seinen Schädel: Warum der Fall von Phineas Gage Medizingeschichte schrieb

Kohärenz

In Kürze: 
Kohärenz entspricht dem Ruhezustand eines Gehirns. Inkohärenz ist der Aktivitätszustand eines Gehirns, wenn es Probleme lösen muss. Das Gehirn versucht, möglichst schnell aus der Inkohärenz wieder herauszukommen.

Der Begriff der Kohärenz wird vor allem von dem deutschen Hirnforscher Gerald Hüther verwendet. Auf Youtube finden sich zahlreiche Vorträge von ihm, es lohnt sich immer, sich einen seiner Vorträge anzusehen.

Kohärenz bezeichnet den Zustand, in dem das Gehirn zufrieden ist. Alles ist gut, die Gehirnaktivität kann auf einem tiefen Level geleistet werden (Hüther, 2019, min 17.40, f.). Eine Anforderung versetzt das Gehirn in den Zustand der Inkohärenz, das Aktivitätsniveau geht hoch, der Energieverbrauch steigt und die Erregerströme in den Hirnzellen fliessen in schneller Frequenz. Ein Problem muss gelöst werden!

Inkohärenz ist nicht so angenehm.

Im Gehirn wird nun versucht, eine Lösung zu finden. Zuerst untersucht das Gehirn, ob es bereits eine Strategie gespeichert hat, die erfolgsversprechend sein könnte. In der Regel ist das der Fall, so dass es keine zusätzlichen Anstrengungen braucht, um noch einen neuen Weg zu entwickeln. Nach Gerald Hüther (2019, min 17.40, f.) wird das Gehirn immer zuerst versuchen, einen möglichst energiesparenden Weg zu finden.

Dieses Verhalten lässt sich wieder aus der Entwicklungsgeschichte der Menschheit erklären: Schon im Ruhezustand verbraucht das menschliche Gehirn etwa 20% der Körperenergie. Wird das Gehirn in Arbeit versetzt, so wird daraus schnell mehr. Die Strategie, möglichst eine schnelle Lösung herbeizuführen soll sicherstellen, dass nicht mehr Energie als nötig verbraucht wird. Es war in der Geschichte der Menschheit so, dass Menschen nicht jederzeit über ausreichende Energiereserven verfügen. Der Mangel an Energie war über Jahrtausende eine tägliche Realität. In diesem Kontext machte es tatsächlich Sinn, das Gehirn möglichst sparsam arbeiten zu lassen.

Drei Aspekte des Kohärenzgefühls

Wie definiert sich der Zustand der Kohärenz? Es gibt drei zentrale Aspekte des Kohärenzgefühls (nach Jegotka, Luitjens, 2016, S.45):

  • Verstehbarkeit: Verstehen kann sich dann entwickeln, wenn die Erfahrungen der eigenen Lebensumwelt zu einem gewissen Teil vorhersehbar sind, eine nachvollziehbare Struktur und Ordnung haben. Dies ist der kognitive Aspekt des Kohärenzgefühls.
  • Handhabbarkeit: In welcher Weise können Menschen sich mit ihrer Umwelt in Beziehung setzen? Wie nehmen sie die Bedeutung der Situation wahr? Haben sie Zugang zu Ressourcen? Sind sie in der Lage, diese zu nutzen und die Anforderungen durch eigenes Handeln aktiv zu bewältigen? Das ist der Verhaltensaspekt des Kohärenzgefühls.
  • Bedeutsamkeit: Gibt es Ziele oder Anforderungen, die als lohnende Herausforderung empfunden werden? Gibt es Werte oder Dinge, für die sie sich einsetzen, weil sie ihnen ganz besonders wichtig sind? Das ist der motivationale Aspekt des Kohärenzgefühls.

Inkohärenz auflösen

Die Anforderung, sich neues Wissen anzueignen, versetzt das Gehirn auch in Inkohärenz. Es ist ein Zustand des Ungleichgewichts, der etwas unangenehm ist. Das Gehirn muss versuchen, das zu Lernende in das Gedächtnis zu integrieren oder es findet andere Wege, die Anforderung möglichst energieeffizient zu bearbeiten.

3 mögliche Szenarien sollen das Phänomen illustrieren. Stellen Sie sich vor, es steht eine Prüfung an. Sie müssen sich darauf vorbereiten:

Lernen

Option 1


Manche Menschen haben  eine Lernmethode zur Verfügung. Im folgenden grauen Abschnitt wird als Beispiel die Feynman Methode dargestellt. Es ist eine Lernmethode, die damit arbeitet, das Gehirn immer wieder bewusst in kürzere Phasen der Inkohärenz zu versetzen: Sie versuchen, die Inhalte in eigenen Worten zusammen zu fassen und merken beim Zusammenfassen, was Sie noch nicht ganz verstanden haben. Sie verdichten das Thema immer weiter, bis sie ein solch umfassendes Verständnis von dem Thema haben, dass sie die wesentlichen Punkte in 2 – 3 Sätzen zusammenfassen können. Das Gefühl der Kohärenz stellt sich ein, das Gehirn ist zufrieden mit dem Ergebnis.

Richard Feynmans Lernmethode (eilige Leser können das überspringen)

«if you want to master something, teach it! The more you teach, the better you learn.»

Eine der interessantesten Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts, ein Pionier der modernen Quantenphysik. Im Jahr 1965 erhielt er den Nobelpreis für seine Arbeiten zur Quantenelektrodynamik.
Feynman zeichnete sich als Dozent durch sein Talent aus, schwierige Zusammenhänge in einer klaren und bildhaften Sprache darstellen zu können. Es gibt auf Youtube einige verschwommene Aufnahmen aus der 80er Jahren, in denen er zu sehen ist. Man spürt die Begeisterung dieses Mannes für die Wissenschaft und den Drang, möglichst viele Menschen damit anzustecken.
Die Feynman Methode, die er neben seiner Tätigkeit als Quantenphysiker auch noch entwickelt hat, besteht aus 4 Schritten. Wichtig ist zum Verständnis, dass es für den Lernerfolg sehr relevant ist, ob Wissen kurzzeitig als deklaratives Wissen abgespeichert werden soll, oder ob es langfristig als verwurzeltes, also im Gehirn vernetztes Wissen abgespeichert werden soll. Nur wenn etwas wirklich verstanden wurde, kann man nach Feynmans Vorstellung auch langfristig etwas damit anfangen.
 
Feynmans Methode sieht 4 Schritte vor (Robins, 2012):

Schritt 1: Erkläre das Thema komplett. Verwende dabei möglichst keine Fremdworte. Man kann es für sich selber erklären, aufschreiben oder jemand anderes erklären, das wäre natürlich besonders ideal.


Schritt 2: Notiere fehlendes Wissen. Anhand der Schwierigkeiten beim Erklären in Schritt 1 zeigen sich schnell Wissenslücken. Eventuell gibt es Begriffe, die nicht klar verstanden wurden oder ganze Zusammenhänge sind unklar. Alles muss notiert werden.


Schritt 3: Schliesse die Wissenslücken. Mit den Notizen lässt sich sehr gezielt recherchieren, welches Wissen noch benötigt wird. Alle beim Erklären auftretenden Probleme sollten nun genauer recherchiert werden.


Schritt 4: Erkläre das Thema komplett. Der Kreis beginnt von vorne, mit grosser Wahrscheinlichkeit werden nun wieder vereinzelte Wissenslücken und Unsicherheiten auftreten. Der Kreis beginnt wieder von vorne und wird wiederholt, bis eine schlüssige Erklärung des Themas vorliegt. Jetzt ist das Thema im Wissen des Erklärenden fest verankert.

Job erledigen

Option 2


Viele Menschen haben im Lauf ihres Schülerlebens die Strategie erworben, möglichst viel Details des Themas auswendig zu lernen und dann bei passender Gelegenheit hin zu schreiben. Das funktioniert im Alltag oft.

Auswendig gelerntes Wissen wird schon nach wenigen Tagen wieder vergessen, weil die Verknüpfungen der Synapsen nach der Prüfung nicht mehr benötigt werden. Schon nach wenigen Wochen wird das Gelernte kaum noch abrufbar sein.

Dennoch: Der Job ist erledigt, die Prüfung kann voraussichtlich erfolgreich bewältigt werden. Das Gefühl der Kohärenz stellt sich ein, das Gehirn ist zufrieden.

Vermeiden

Option 3


Manche Menschen haben vielleicht gar keine erfolgsversprechende Strategie, weil ihr Gehirn keinen Ansatzpunkt finden kann, um das Problem bearbeiten zu können. Um der Überforderung zu entgehen, wählt das Gehirn den Weg, das Problem zu verschieben oder zu verdrängen und stattdessen viel lieber ein Videospiel zu spielen, bei dem die Erfolgsaussichten wesentlich besser sind, als bei der Prüfung.

Es ist eine bedürfnisorientierte Lösung, der langfristige Effekt ist nicht positiv.

Der Wunsch nach Kohärenz ist jedoch stärker als der mögliche Gewinn, der aus der Perspektive dieses Menschen unerreichbar fern scheint. Das Gefühl der Kohärenz stellt sich beim Spielen ein, das Gehirn ist beschäftigt und fokussiert sich auf das Spiel. Kohärenz kann auch so aussehen.

Kohärenz und unser Verhalten

Dieses Grundprinzip der Kohärenz hat nicht nur Einfluss auf unser Lernverhalten: Es ist ein Grundprinzip allen Verhaltens. Hier eine mögliche Situation in unserem Alltag:

Jemand spricht Sie an und sagt «So wie du eben mit mir geredet hast, das hat mich gestresst». 

Das war eine Rückmeldung ausserhalb des Normbereichs. Das löst Inkohärenz in uns aus. Was können wir nun tun, um diese Inkohärenz wieder in Kohärenz zu verwandeln?

Annehmen?

Option 1


Sie können die Szene, auf die sich die Kritik bezieht, in Erinnerung rufen und analysieren. Vielleicht müssen Sie rückfragen, weil die Situationen Ihnen gar nicht so präsent ist. Haben Sie sich verletzend verhalten? Was hat gestresst? Vielleicht gab es ein Missverständnis? Möglicherweise gelingt Ihnen, die Perspektive Ihres Gegenübers einzunehmen. Von dort sieht die Situation anders aus. Nun können Sie Optionen suchen, um die Situation zu bereinigen und zu lernen.

Da Sie selbst durch Kritik gestresst werden, muss Ihr Gehirn bei diesem Ansatz Energie aufwenden, um ruhig zu bleiben und noch weitere Energie, um diese Analyse durchzuführen. Dieser Weg, Kohärenz herzustellen ist sicher nicht der sparsamste.

Ablehnen?

Option 2


Sie könnten Kohärenz herstellen, indem Sie die Bewertung der Situation ändern: «Die soll sich doch nicht so haben, meine Güte, ist die empfindlich!» und schon sind Sie dabei, im Eiltempo Kohärenz herzustellen. Das Verhältnis zu der Person, die Sie kritisiert, ist nun etwas getrübt. Durch die Abwertung der Person passt das Bild für das Gehirn aber wieder, denn es hat soeben erfolgreich Kohärenz hergestellt.

Die Haltung „Alle sind doof, ausser ich“ ist daher aus der Sicht der Energiebilanz des Gehirns eine sinnvolle Option, weil sie den Energieverbrauch auf ein Minimum reduziert.

Personen, die kritisiert werden, reagieren manchmal gar nicht so konstruktiv und offen, wie es in einer idealen Welt wünschenswert wäre. Die wenigsten Menschen werden gerne kritisiert. Sind diese Menschen denn nicht froh um Hinweise, wie sie sich weiter entwickeln könnten? Die Antwort ist in vielen Fällen: Nein, sie sind nicht froh. Sie schätzen Kritik nicht. Das passt nicht zu ihrem Wunsch nach Kohärenz.

Selbstreflexion und die Option, das Verhalten zu überdenken ist für das Gehirn ein möglicher Weg. Es wäre ein Weg, der für das Gehirn vielleicht energieintensiv und anstrengend wäre. Wenn wir uns nicht bewusst dafür entscheiden, sucht das Gehirn eher eine schnelle Lösung, die weniger energieintensiv ist.

Im Alltag können wir beobachten, was Menschen unternehmen, um Inkohärenz in Kohärenz zu verwandeln. Es gibt viele Möglichkeiten, da sind Menschen sehr verschieden. Das Grundprinzip, der Wunsch nach Kohärenz, ist allen Menschen gemeinsam.

Andreas Illenberger, Dezember 2024