Glucocorticoide – Der Langzeitstress

Zu einem Stressereignis gehört eine akute Phase, bei dem zunächst Adrenalin und Noradrenalin zusammen die Energie für die Reaktion auf ein angstauslösendes Ereignis bündeln. Zu diesem Zeitpunkt wird der Appetit gedämpft, denn Essen gehört zu den Dingen, die man nicht braucht, wenn man um sein Leben kämpft. Die erforderlichen Nährstoffe werden direkt aus den körpereigenen Vorräten entnommen.

Adrenalin und Noradrenalin haben eine kurze Lebensdauer, wenn weiterhin Gefahr droht, die Aufmerksamkeit weiter hoch sein muss, übernimmt Cortisol die Steuerung der Energieversorgung. Das ist im Blutkreislauf zunächst einmal etwas ganz Normales. Es kommt den ganzen Tag über in einer gewissen Konzentration im Blut vor.

Glucocorticoide haben eine wichtige Rolle bei der Aufgabe, den ganzen Tag genügend Energie für alle Muskeln und andere Zellen zur Verfügung zu stellen. Sie können den Anteil an Glucose, Aminosären und Fett im Blutkreislauf beeinflussen. Die Körperzellen bedienen sich an den Nährstoffen aus dem Blut, wenn sie sie brauchen. Wenn die Nährstoffe im Blut weniger werden, können Glucocorticoide an verschiedenen Vorratslagern im Körper Nachschub anfordern. Ist der Anteil an Glucocorticoiden im Blut niedrig, werden wenig Nährstoffe ins Blut gegeben. Ist er dagegen hoch, heisst das, dass mehr Energie benötigt wird. Nährstoffe werden aus dem Vorrat oder direkt aus der Verdauung ins Blut freigegeben. Am Morgen, wenn wir aufstehen, steigt unser Cortisol Spiegel im Blut an, um unseren Körper die Energie für den neuen Tag vorzubereiten. So haben wir den ganzen Tag über eine «gute» Menge an Cortisol im Blut, weil wir sie brauchen.

Stress kann den Anteil an Cortisol im Blut kräftig erhöhen. Die Amygdala signalisiert: «Erhöhe die Energie in allen Muskeln und schalte alle überflüssige Energieverbraucher ab: Wir müssen allzeit bereit sein, zu kämpfen oder zu fliehen».

Aus der Perspektive der Evolution ist dieser Zusammenhang der beiden Hormone sinnvoll: Wenn Sie gerade vor einem Löwen geflüchtet sind und sich nun gerade ausserhalb der akuten Gefahr befinden, ist immer noch erhöhte Wachsamkeit nötig. Der Löwe ist noch in der Nähe! Also muss eine hohe Energiemenge verfügbar sein, für eine mögliche Fortsetzung der Flucht. In einer solchen Pause auf der Flucht ist es für das Überleben sinnvoll, noch schnell Nahrung zu sich zu nehmen, den Muskeln eine kurze Verschnaufpause zu gönnen und dennoch äusserst wachsam zu sein. Während sich die Situation mit dem Löwen hoffentlich bald entschärft, ist das im Zusammenhang mit heutigem Stress nicht der Fall: Manche Menschen leben emotional in einer vergleichbaren Situation, nur dass der Löwe niemals weggeht. Eine langanhaltende Stresssituation entsteht.

Es ist hilfreich, wenn man im Umgang mit anderen Menschen die Symptome eines erhöhten Cortisolspiegels erkennen kann. Es kann uns helfen, Verhalten von Menschen besser zu verstehen, wenn wir solche Hinweise zu lesen lernen.

Wie kann man die Wirkung des Cortisols erkennen?

Essen und Stress

Um schnell Energie zu mobilisieren, können Glucocorticoide Glucose aus den Vorräten der Körperzellen lösen. Sie können das Hormon Insulin in seiner Arbeit hemmen, das dafür zuständig ist, Vorräte an Nährstoffen in die Körperzellen einzulagern. Der Anteil an Nährstoffen im Blut ist dadurch sehr hoch und das Energieniveau im Körper, speziell in der Muskulatur, ist ebenfalls hoch. Im Gegensatz zu Adrenalin dämpfen Glucocorticoide den Appetit nicht. Im Gegenteil, sie signalisieren dem Gehirn: «Suche nach kalorienreicher Nahrung!» Hunger entsteht, die Aufmerksamkeit wird darauf ausgerichtet, Nahrung zu finden. Vor allem Schokolade und fettreiche Snacks stehen auf der Wunschliste der Glucocorticoide ganz oben. Mit den zusätzlichen Nährstoffen im Blut ist nun wirklich sichergestellt, dass weiterhin genug Energie für eine Flucht oder einen bevorstehenden Kampf bereit ist. Wenn genügend Energie im Kreislauf ist, kann es nicht schaden, wieder etwas davon einzulagern, also etwas Fettgewebe anzulegen, während der Energiegehalt im Blut aber weiterhin hoch gehalten wird.

Stress mobilisiert gespeicherte Energie



Es gibt in der Folge davon folgenden Zusammenhang (nach Sapolsky, 2004, S.89): Erlebt eine Person Stress in der Form, dass häufig und wiederkehrend immer aufs Neue Adrenalin ausgestossen wird, wird diese Person tendenziell an Gewicht verlieren, weil Adrenalin den Appetit dämpft. Die Person wird aufgrund der Stressreaktion nicht genügend essen.
Erlebt eine Person Stress, der einen Adrenalinausstoss zur Folge hat, das Stressereignis danach aber über längere Zeit andauert, wird die Person dazu neigen, hochkalorische Nahrung zu essen. Sie wird tendenziell an Gewicht zulegen. Langanhaltender Stress macht Appetit auf Schokolade und Chips.
So einfach ist das im realen Leben oft nicht. Es gibt noch einige andere Faktoren, die auf den Appetit Einfluss nehmen. Es ist nur ein Hinweis auf Stress, mehr nicht.

Immunsystem und Stress

Cortisol ist verantwortlich für ein Phänomen, dass viele Lehrerinnen und Lehrer sicher kennen: In der Schulzeit, vor allem unter Stress, funktionieren sie sehr gut und wünschen sich irgendwann sehnlichst die Ferien herbei. Sie fühlen sich erschöpft. Schon am ersten Ferientag allerdings werden sie krank. Das ist ein Phänomen, für das es erst seit einigen Jahren eine schlüssige Erklärung gibt: Im akuten Stress wird das Immunsystem zunächst hochgefahren. Die Abwehrfähigkeit geht hoch. Doch was hoch geht, muss auch wieder herunter. Die Abwehrfähigkeit geht nach langen Stressphasen nicht einfach zurück auf den Normalzustand, sondern sie sinkt tiefer.
Der Grund für dieses Phänomen liegt in einer weiteren Eigenschaft der Glucocorticoide: Sie können weisse Blutkörperchen vernichten. Weisse Blutkörperchen spüren Fremdkörper, wie z.B. Bakterien, auf und versuchen, sie unschädlich zu machen. Die Wirkung der Glucocorticoide konzentiert sich zunächst auf Blutkörperchen, die schon angeschlagen und nicht mehr voll funktionsfähig sind. Nach einem Stressereignis wird so die Abwehrkraft wieder auf Vordermann gebracht, indem man die Bildung frischer, gesunder weisser Blutkörperchen fördert. So kann die Reaktion auf Stress die Abwehrkräfte langfristig verbessern. Grundsätzlich ist das ein guter Plan. Eine erfolgreiche Stressreaktion stärkt das Immunsystem.
Hält der Stresslevel aber längerfristig an, sind irgendwann keine beschädigten weissen Blutkörperchen mehr da. Dann wird der Mechanismus, der eigentlich die Funktion hatte, das Blutsystem gesund zu erhalten, sehr schädlich. Jetzt vernichten die Glucocorticoide gesunde weisse Blutkörperchen. Es werden mehr weisse Blutkörperchen vernichtet, als der gestresste Körper neu produzieren kann. Die Abwehrfähigkeit des gesamten Organismus sinkt.

Verdauung und Stress

Magengeschwüre

Ein bekanntes Stressphänomen entsteht aus der Eigenschaft aller Stresshormone, die Säurebildung des Magens zu reduzieren. Verdauung gehört in Stresssituationen nicht zu den wichtigsten Aufgaben, daher wird sie zurückgefahren. Es ist eine Massnahme, um Energie zu sparen.

Im Magen herrscht damit ein weniger ätzendes Gemisch an Verdauungssäften. Das sind eigentlich gute Nachrichten für die Magenschleimhäute: Sie müssen sonst sehr viel Energie aufwenden, um eine dicke Schutzschicht aus diversen chemischen Verbindungen zu bilden, die die Aufgabe haben, die Magenwand vor der Säure zu schützen. Sinkt die Säurekonzentration dauerhaft, kann auch die Magenwand den Schutzschild weniger stark auslegen. Das bedeutet eine grosse Einsparung beim Aufwand: Die Schutzschicht im Magen ist sehr teuer und energieaufwändig zu bauen. Eine weniger dicke Schutzschicht zu bauen, spart eine Menge Energie.
Glucocorticoide, aufgrund von dauerhaftem Stress ausgestossen, haben genau diesem Effekt. Sie können die Bildung von besonders ätzendem Magensaft hemmen und stattdessen einen weniger ätzenden Saft in Auftrag geben. Insgesamt spart das viel Energie ein.

Das Problem dabei tritt erst ein, wenn der Stresslevel sich wieder normalisiert. Ohne die Wirkung von Stresshormonen steigt der Säuregehalt des Magensaftes wieder an, während die Schutzschicht nun nicht mehr kräftig genug dafür ist. Durch die Sparmassnahmen reicht der Schutzmantel für die Magenwand nicht aus. Die Säure kann die Magenwand beschädigen. Das ist der erste Schritt zur Entwicklung eines Magengeschwürs. Nicht der Stress verursacht Magengeschwüre, sondern der Normalzustand. Damit das aber passieren kann, muss die Magenwand durch die Wirkung des Stresses entsprechend geschwächt worden sein.

Durchfall
Viele Menschen werden auch folgendes Phänomen kennen: Stress verursacht Durchfall. Der Zusammenhang, der dahintersteckt, ist einfach: Stresshormone reduzieren die Bildung von allen Verdauungssäften. Das ist im Darm, wie im Magen eine direkte und effektive Massnahme, um kurzfristig Energie zu sparen. Stress hat keine langfristigen Pläne. Stress reagiert auf Bedrohungen und damit macht es Sinn, die Energie zur Verdauung vorerst einzusparen. Gleichzeitig werden jedoch die Muskeln mit Energie geflutet. Alle Muskeln. Auch die des Darms.
Stress unterscheidet nicht zwischen Muskeln, die zur Flucht nötig sind und Muskeln, die gerade nicht nötig sind. Da wäre noch Potential für Einsparungen. Die Darmmuskulatur beginnt, aufgrund der vorhandenen Energie auf Hochtouren zu arbeiten. Die Verdauungssäfte haben nicht die Kapazität, so schnell zu arbeiten, sie sind in ihrer Wirksamkeit zurückgefahren. Der Brei im Darm wird mit hohem Druck weiterbefördert, ohne dass es zu einer nennenswerten Verdauungstätigkeit kommt. Aufgrund des Drucks im Darm bleibt nur ein Weg, den Druck zu reduzieren.

Schlaf und Stress

Viele Menschen leiden unter Schlafstörungen, wenn sie sich gestresst fühlen. Hier liegt eines der grössten Probleme des Phänomens Stress: Die Schlafstörung verstärkt das Stressempfinden massiv. Normalerweise sinkt der Anteil an Cortisol in unserem Blut stark ab, wenn wir schlafen. Die beruhigende Seite des vegetativen Nervensystems, der Parasympathikus, übernimmt dann die Kontrolle. Der Körper geht in einen Regenerationsmodus, es findet nur wenig Stoffwechsel statt. Die höchste Regenerierleistung von Körperzellen wird in den Phasen des langwelligen Schlafes erzielt. Das gilt für alle Zellen des Gehirns bis hinunter zu den Zellen des grossen Zehs.

Doch wenn der Anteil an Glucocorticoiden im Blut zu hoch ist, befindet sich unser Körper in einem Zustand der erhöhten motorischen Anspannung. Unsere Motorik bereitet sich immer noch darauf vor, vor einem Löwen davon zu laufen. Der uralte Mechanismus unserer Urahnen ist nun einfach nicht mehr hilfreich und doch lässt er sich nicht abschalten. Das ist kein guter Zustand um ruhig einschlafen zu können. Das Signal des Parasympathikus, das die Aktivität des Körpers herunterregeln möchte, kommt so nicht durch.

Wir liegen also wach. Die Regenerationsphasen fallen zumindest deutlich kürzer aus, vielleicht fallen sie sogar aus. Das sind schon schlechte Voraussetzungen für den nächsten Tag.

Beim Aufwachen kommt dann das nächste Problem: Die Biochemie des Körpers sieht vor, dass zum Aufwachen Glucocorticoide ins Blut gepumpt werden. Die sollen die Energie bereitstellen für den kommenden Tag. Wenn schon Glucocorticoide aus der schlafarmen Nacht im Blut sind, starten wir den Tag direkt mit einem erhöhten Stresslevel. Hier ist der Grundstein gelegt für eine Schlaufe aus Schlaflosigkeit und als stressig empfundenen Tagen, die garantiert zu nichts Gutem führen wird. Guter Schlaf ist sehr wichtig und leider sehr schwer zu bekommen.

Man kann die Situation beeinflussen, wenn man die Mechanismen kennt, nach denen Stress funktioniert. Man kann Situationen so gestalten, dass sie das Stressempfinden reduzieren werden. Es geht darum, aus der Tretmühle einer dauerhaften Stressbelastung herauszufinden.

Dazu schon bald mehr in einem weiteren Beitrag in diesem Blog.

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