In Kürze:
Kohärenz entspricht dem Ruhezustand eines Gehirns. Inkohärenz ist der Aktivitätszustand eines Gehirns, wenn es Probleme lösen muss. Das Gehirn versucht, möglichst schnell aus der Inkohärenz wieder herauszukommen.
Der Begriff der Kohärenz wird vor allem von dem deutschen Hirnforscher Gerald Hüther verwendet. Auf Youtube finden sich zahlreiche Vorträge von ihm, es lohnt sich immer, sich einen seiner Vorträge anzusehen.
Kohärenz bezeichnet den Zustand, in dem das Gehirn zufrieden ist. Alles ist gut, die Gehirnaktivität kann auf einem tiefen Level geleistet werden (Hüther, 2019, min 17.40, f.). Eine Anforderung versetzt das Gehirn in den Zustand der Inkohärenz, das Aktivitätsniveau geht hoch, der Energieverbrauch steigt und die Erregerströme in den Hirnzellen fliessen in schneller Frequenz. Ein Problem muss gelöst werden!

Inkohärenz ist nicht so angenehm.
Im Gehirn wird nun versucht, eine Lösung zu finden. Zuerst untersucht das Gehirn, ob es bereits eine Strategie gespeichert hat, die erfolgsversprechend sein könnte. In der Regel ist das der Fall, so dass es keine zusätzlichen Anstrengungen braucht, um noch einen neuen Weg zu entwickeln. Nach Gerald Hüther (2019, min 17.40, f.) wird das Gehirn immer zuerst versuchen, einen möglichst energiesparenden Weg zu finden.
Dieses Verhalten lässt sich wieder aus der Entwicklungsgeschichte der Menschheit erklären: Schon im Ruhezustand verbraucht das menschliche Gehirn etwa 20% der Körperenergie. Wird das Gehirn in Arbeit versetzt, so wird daraus schnell mehr. Die Strategie, möglichst eine schnelle Lösung herbeizuführen soll sicherstellen, dass nicht mehr Energie als nötig verbraucht wird. Es war in der Geschichte der Menschheit so, dass Menschen nicht jederzeit über ausreichende Energiereserven verfügen. Der Mangel an Energie war über Jahrtausende eine tägliche Realität. In diesem Kontext machte es tatsächlich Sinn, das Gehirn möglichst sparsam arbeiten zu lassen.
Drei Aspekte des Kohärenzgefühls
Wie definiert sich der Zustand der Kohärenz? Es gibt drei zentrale Aspekte des Kohärenzgefühls (nach Jegotka, Luitjens, 2016, S.45):
- Verstehbarkeit: Verstehen kann sich dann entwickeln, wenn die Erfahrungen der eigenen Lebensumwelt zu einem gewissen Teil vorhersehbar sind, eine nachvollziehbare Struktur und Ordnung haben. Dies ist der kognitive Aspekt des Kohärenzgefühls.
- Handhabbarkeit: In welcher Weise können Menschen sich mit ihrer Umwelt in Beziehung setzen? Wie nehmen sie die Bedeutung der Situation wahr? Haben sie Zugang zu Ressourcen? Sind sie in der Lage, diese zu nutzen und die Anforderungen durch eigenes Handeln aktiv zu bewältigen? Das ist der Verhaltensaspekt des Kohärenzgefühls.
- Bedeutsamkeit: Gibt es Ziele oder Anforderungen, die als lohnende Herausforderung empfunden werden? Gibt es Werte oder Dinge, für die sie sich einsetzen, weil sie ihnen ganz besonders wichtig sind? Das ist der motivationale Aspekt des Kohärenzgefühls.
Inkohärenz auflösen
Die Anforderung, sich neues Wissen anzueignen, versetzt das Gehirn auch in Inkohärenz. Es ist ein Zustand des Ungleichgewichts, der etwas unangenehm ist. Das Gehirn muss versuchen, das zu Lernende in das Gedächtnis zu integrieren oder es findet andere Wege, die Anforderung möglichst energieeffizient zu bearbeiten.
3 mögliche Szenarien sollen das Phänomen illustrieren. Stellen Sie sich vor, es steht eine Prüfung an. Sie müssen sich darauf vorbereiten:
Lernen
Option 1
Manche Menschen haben eine Lernmethode zur Verfügung. Im folgenden grauen Abschnitt wird als Beispiel die Feynman Methode dargestellt. Es ist eine Lernmethode, die damit arbeitet, das Gehirn immer wieder bewusst in kürzere Phasen der Inkohärenz zu versetzen: Sie versuchen, die Inhalte in eigenen Worten zusammen zu fassen und merken beim Zusammenfassen, was Sie noch nicht ganz verstanden haben. Sie verdichten das Thema immer weiter, bis sie ein solch umfassendes Verständnis von dem Thema haben, dass sie die wesentlichen Punkte in 2 – 3 Sätzen zusammenfassen können. Das Gefühl der Kohärenz stellt sich ein, das Gehirn ist zufrieden mit dem Ergebnis.
Richard Feynmans Lernmethode (eilige Leser können das überspringen)
«if you want to master something, teach it! The more you teach, the better you learn.»
Eine der interessantesten Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts, ein Pionier der modernen Quantenphysik. Im Jahr 1965 erhielt er den Nobelpreis für seine Arbeiten zur Quantenelektrodynamik.
Feynman zeichnete sich als Dozent durch sein Talent aus, schwierige Zusammenhänge in einer klaren und bildhaften Sprache darstellen zu können. Es gibt auf Youtube einige verschwommene Aufnahmen aus der 80er Jahren, in denen er zu sehen ist. Man spürt die Begeisterung dieses Mannes für die Wissenschaft und den Drang, möglichst viele Menschen damit anzustecken.
Die Feynman Methode, die er neben seiner Tätigkeit als Quantenphysiker auch noch entwickelt hat, besteht aus 4 Schritten. Wichtig ist zum Verständnis, dass es für den Lernerfolg sehr relevant ist, ob Wissen kurzzeitig als deklaratives Wissen abgespeichert werden soll, oder ob es langfristig als verwurzeltes, also im Gehirn vernetztes Wissen abgespeichert werden soll. Nur wenn etwas wirklich verstanden wurde, kann man nach Feynmans Vorstellung auch langfristig etwas damit anfangen.
Feynmans Methode sieht 4 Schritte vor (Robins, 2012):
Schritt 1: Erkläre das Thema komplett. Verwende dabei möglichst keine Fremdworte. Man kann es für sich selber erklären, aufschreiben oder jemand anderes erklären, das wäre natürlich besonders ideal.
Schritt 2: Notiere fehlendes Wissen. Anhand der Schwierigkeiten beim Erklären in Schritt 1 zeigen sich schnell Wissenslücken. Eventuell gibt es Begriffe, die nicht klar verstanden wurden oder ganze Zusammenhänge sind unklar. Alles muss notiert werden.
Schritt 3: Schliesse die Wissenslücken. Mit den Notizen lässt sich sehr gezielt recherchieren, welches Wissen noch benötigt wird. Alle beim Erklären auftretenden Probleme sollten nun genauer recherchiert werden.
Schritt 4: Erkläre das Thema komplett. Der Kreis beginnt von vorne, mit grosser Wahrscheinlichkeit werden nun wieder vereinzelte Wissenslücken und Unsicherheiten auftreten. Der Kreis beginnt wieder von vorne und wird wiederholt, bis eine schlüssige Erklärung des Themas vorliegt. Jetzt ist das Thema im Wissen des Erklärenden fest verankert.
Job erledigen
Option 2
Viele Menschen haben im Lauf ihres Schülerlebens die Strategie erworben, möglichst viel Details des Themas auswendig zu lernen und dann bei passender Gelegenheit hin zu schreiben. Das funktioniert im Alltag oft.
Auswendig gelerntes Wissen wird schon nach wenigen Tagen wieder vergessen, weil die Verknüpfungen der Synapsen nach der Prüfung nicht mehr benötigt werden. Schon nach wenigen Wochen wird das Gelernte kaum noch abrufbar sein.
Dennoch: Der Job ist erledigt, die Prüfung kann voraussichtlich erfolgreich bewältigt werden. Das Gefühl der Kohärenz stellt sich ein, das Gehirn ist zufrieden.
Vermeiden
Option 3
Manche Menschen haben vielleicht gar keine erfolgsversprechende Strategie, weil ihr Gehirn keinen Ansatzpunkt finden kann, um das Problem bearbeiten zu können. Um der Überforderung zu entgehen, wählt das Gehirn den Weg, das Problem zu verschieben oder zu verdrängen und stattdessen viel lieber ein Videospiel zu spielen, bei dem die Erfolgsaussichten wesentlich besser sind, als bei der Prüfung.
Es ist eine bedürfnisorientierte Lösung, der langfristige Effekt ist nicht positiv.
Der Wunsch nach Kohärenz ist jedoch stärker als der mögliche Gewinn, der aus der Perspektive dieses Menschen unerreichbar fern scheint. Das Gefühl der Kohärenz stellt sich beim Spielen ein, das Gehirn ist beschäftigt und fokussiert sich auf das Spiel. Kohärenz kann auch so aussehen.
Kohärenz und unser Verhalten
Dieses Grundprinzip der Kohärenz hat nicht nur Einfluss auf unser Lernverhalten: Es ist ein Grundprinzip allen Verhaltens. Hier eine mögliche Situation in unserem Alltag:
Jemand spricht Sie an und sagt «So wie du eben mit mir geredet hast, das hat mich gestresst».
Das war eine Rückmeldung ausserhalb des Normbereichs. Das löst Inkohärenz in uns aus. Was können wir nun tun, um diese Inkohärenz wieder in Kohärenz zu verwandeln?
Annehmen?
Option 1
Sie können die Szene, auf die sich die Kritik bezieht, in Erinnerung rufen und analysieren. Vielleicht müssen Sie rückfragen, weil die Situationen Ihnen gar nicht so präsent ist. Haben Sie sich verletzend verhalten? Was hat gestresst? Vielleicht gab es ein Missverständnis? Möglicherweise gelingt Ihnen, die Perspektive Ihres Gegenübers einzunehmen. Von dort sieht die Situation anders aus. Nun können Sie Optionen suchen, um die Situation zu bereinigen und zu lernen.
Da Sie selbst durch Kritik gestresst werden, muss Ihr Gehirn bei diesem Ansatz Energie aufwenden, um ruhig zu bleiben und noch weitere Energie, um diese Analyse durchzuführen. Dieser Weg, Kohärenz herzustellen ist sicher nicht der sparsamste.
Ablehnen?
Option 2
Sie könnten Kohärenz herstellen, indem Sie die Bewertung der Situation ändern: «Die soll sich doch nicht so haben, meine Güte, ist die empfindlich!» und schon sind Sie dabei, im Eiltempo Kohärenz herzustellen. Das Verhältnis zu der Person, die Sie kritisiert, ist nun etwas getrübt. Durch die Abwertung der Person passt das Bild für das Gehirn aber wieder, denn es hat soeben erfolgreich Kohärenz hergestellt.
Die Haltung „Alle sind doof, ausser ich“ ist daher aus der Sicht der Energiebilanz des Gehirns eine sinnvolle Option, weil sie den Energieverbrauch auf ein Minimum reduziert.
Personen, die kritisiert werden, reagieren manchmal gar nicht so konstruktiv und offen, wie es in einer idealen Welt wünschenswert wäre. Die wenigsten Menschen werden gerne kritisiert. Sind diese Menschen denn nicht froh um Hinweise, wie sie sich weiter entwickeln könnten? Die Antwort ist in vielen Fällen: Nein, sie sind nicht froh. Sie schätzen Kritik nicht. Das passt nicht zu ihrem Wunsch nach Kohärenz.
Selbstreflexion und die Option, das Verhalten zu überdenken ist für das Gehirn ein möglicher Weg. Es wäre ein Weg, der für das Gehirn vielleicht energieintensiv und anstrengend wäre. Wenn wir uns nicht bewusst dafür entscheiden, sucht das Gehirn eher eine schnelle Lösung, die weniger energieintensiv ist.
Im Alltag können wir beobachten, was Menschen unternehmen, um Inkohärenz in Kohärenz zu verwandeln. Es gibt viele Möglichkeiten, da sind Menschen sehr verschieden. Das Grundprinzip, der Wunsch nach Kohärenz, ist allen Menschen gemeinsam.
Andreas Illenberger, Dezember 2024