Homöostase

Oder: Warum das Gehirn seine eigenen Regeln hat

In Kürze: 
Homöostase ist ein Zustand der ausgeglichenen chemischen Verhältnisse in jeder Körperzelle. Das Gehirn hat die Aufgabe, diesen Zustand möglichst zu erhalten. Dafür verwendet es – wenn nötig - viel Energie. Das Ziel ist, so schnell wie möglich Homöostase herzustellen. Das beeinflusst die gesamte Arbeit des Gehirns.


Eine der Kernfragen, die sich im Zusammenhang um das Gehirn stellen, lautet: «Wozu hat es sich entwickelt»? Nervenzellen (Neuronen) haben keine direkten Aufgaben im Körper. Sie führen keine Bewegungen aus, verdauen nichts, nehmen keine Umweltsignale auf. Sie dienen ausschliesslich der Kommunikation. «Neuronen bestehen zum Nutzen des ganzen Organismus. Für grundlegende Lebensprozesse sind sie nicht notwendig» (Damasio, 2011, S. 23).
Das bedeutet, dass sich im Verlauf der Evolution ein System von Zellen entwickelt hat, dass zwar mit ernährt werden muss, aber keine direkte Arbeitsleistung erbringt. Ein Lebewesen mit Gehirn wird also in der Energieeffizienz nicht besonders gut abschneiden, weil es das Gehirn mit ernähren muss. Das kostet viel Energie! Ein menschliches Gehirn braucht schon im Ruhezustand etwa 20% der Energie, die der Organismus gesamthaft benötigt. Weshalb leisten sich Organismen also ein teures und energiefressendes Nervensystem?


Der Hirnforscher Antonio Damasio (2011) sieht die Ursache für die Entstehung des Gehirns im Bedürfnis der Körperzellen. Ihr Bedürfnis ist, genügend Nahrung zu haben, es nicht zu kalt oder zu warm zu haben, keinen Substanzen ausgesetzt zu sein, die sie beschädigen, etc. Es gibt jede Menge Faktoren, die für eine Zelle stimmen müssen. Jede Zelle unseres Körpers ist angewiesen auf gute Lebensbedingungen. Für diese Faktoren gibt es einen engen Bereich, in dem die Körperzelle gut leben kann. Weicht einer der Parameter zu stark ab, bedroht das eventuell die Existenz der Zelle, schlimmstenfalls den ganzen Organismus. Die Zelle stirbt wegen Mangelernährung ab, die Zellwand wird zerstört aufgrund von zu grosser Hitze, es gibt nicht genug Flüssigkeit – es gibt für eine Körperzelle zahlreiche Möglichkeiten, zu Tode zu kommen.

Wenn man alle Messwerte in einer Zelle mit Instrumenten erheben könnte und alle Messwerte im grünen Bereich wären, wäre die Zelle optimal gesund und optimal versorgt.

Evolution – eilige Leser können diesen Abschnitt überspringen.

Der Zustand der guten Verhältnisse, bei dem die Zelle in einem förderlichen Umfeld leben kann und damit möglichst lange am Leben bleibt, wird Homöostase genannt.
Es gibt viele Kleinstlebewesen, die über kein Nervensystem verfügen, dazu gehört die riesige Gruppe der Bakterien. Wenn man eine Ansammlung von Bakterien unter einem Mikroskop beobachtet, verteilen sie sich zufällig irgendwo im Raum. Wenn aber in einer Ecke des beobachteten Raums ein Giftstoff platziert wird, werden sich die Bakterien nach Möglichkeit von dem Gift wegbewegen. Sie haben wohlgemerkt kein Nervensystem und kein Gehirn. Das Bedürfnis nach Homöostase ist – so die Theorie – der Antrieb für diese Bewegung. Die einzelligen Lebewesen können die Bedrohung ihrer Homöostase spüren und reagieren direkt darauf. Sie spüren den Giftstoff.

Dinoflagellaten sind einzellige Lebenwesen, die sich mit Hilfe der beiden Flagellen im Wasser fortbewegen können

Als die ersten Lebewesen im Verlauf der Evolution immer mehr Zellen zusammenbrachten, wurde es nötig, die Bewegungen und Aktivitäten der einzelnen Zellen zu koordinieren. Zu diesem Zweck hat die Natur chemische Botenstoffe erfunden, die alle Zellen schnell in eine einheitliche Reaktion versetzen können. Bei Gefahr sind blitzschnell alle Zellen informiert und das mehrzellige Gebilde kann die Flucht ergreifen. Das ist oft hilfreich, doch es ist nicht immer sinnvoll, wenn alle Zellen das Gleiche tun. Es wäre z.B. gut, die Richtung einer Fluchtbewegung gezielt beeinflussen zu können.
Ein differenzierterer Schritt, die Koordination zu verfeinern, war die Entwicklung des Nervensystems: Nun gab es nicht mehr nur ein- und dieselbe Reaktion für alle Zellen, sondern gezielte Reaktionen der Zellen, die wirklich reagieren mussten. Es war ein Meilenstein in der Koordination von Bewegungen, der da vor Millionen von Jahren stattgefunden hat. Kleine, mehrzellige Wesen konnten sich nun koordiniert von einer Gefahrenquelle wegbewegen. So hat alles angefangen.

Wenn mehrere Dinoflagellaten in einem Organismus zusammenarbeiten sollen, muss man die Bewegung der Flagellen koordinieren. Als schematische Darstellung orange markiert sind die Verbindungen, die dazu nötig sind: Das Nervensystem.

Wenn der Zustand der Homöostase bedroht ist, wird das Nervensystem alarmiert.

Um die Aufgabe, den Körper möglichst umfassend zu schützen, zu meistern, wurde das Gehirn des Menschen im Verlauf der Evolution mit zwei besonders ausgeprägten Fähigkeiten ausgestattet. Sie sind ein wesentlicher Teil des evolutionären Erbes, dass man in einer weiter entwickelten Variante bei heutigen Menschen sehen und auch nutzen kann:

Die Fähigkeit, in Bildern und Karten zu denken

Das Gehirn ist enorm gut informiert über jedes Detail unseres Körpers und im Fall der beweglichen Gliedmassen nicht nur über deren Zustand, sondern auch über deren Stellung im Raum. Darüber hinaus hat es den Raum, die räumlichen Verhältnisse und alles, mit dem wir eventuell interagieren könnten, im Blick.

Es hat eine grosse Stärke, Karten und Bilder im Gehirn entwerfen und abbilden zu können. Es gibt in der Grosshirnrinde grosse Bereiche mit Nervenzellen, die in symmetrischen Mustern, ähnlich einem Gitternetz, angeordnet sind. Das sind Bereiche, die geschaffen sind, um Bilder zu speichern und zu analysieren. Denken Sie an einen Basketballspieler, der den Ball hebt, wirft und über eine Distanz von mehreren Metern diesen kleinen Ring des Korbs trifft. Eine Symphonie der Bewegungskoordination, die dabei abläuft!


Es gibt in manchen Bereichen des Gehirns eine kartografische Ordnung (Damasio, 2011, S.55). So kann ein Mensch auf der Basis dieser Daten die Situation nach Chancen und Gefahren hin einschätzen und bewerten. Natürlich konnte unser Basketballspieler diese Karte auch nutzen. Wenn sie schon einmal angelegt ist, warum nicht? Es geht schliesslich nicht immer nur ums Überleben.


Der Einfluss dieser Kompetenz auf die Entwicklung weiterer Kompetenzen, die für Menschen typisch sind, lässt sich auch jetzt in diesem Moment gut beobachten: Denken Sie an die Fähigkeit, sich aus einem gelesenen oder gehörten Text ein inneres Bild von dem Inhalt zu machen. Denken Sie daran, wie Sie eine Erklärung erst dann richtig verstehen, wenn Sie ein inneres Bild von dem Zusammenhang sehen können.

Wenn man es in dem Kontext betrachtet, wird klar, was für eine erstaunliche Leistung das Gehirn da vollbringt. Man braucht viel Rechenleistung, um an einem Computer Bilder zu bearbeiten, vor allem, wenn sie sich auch noch bewegen sollen. Dasselbe gilt auch für das Gehirn: Es hat im Bereich der Bilderzeugung eine enorme Leistungsfähigkeit. In dieser Fähigkeit, innere Bilder zu erzeugen steckt ein enormes Potential.

Die Fähigkeit, Vorhersagen zu treffen

Das Gehirn kann auf der Basis der Informationen, die der Körper und die Sinne zur Verfügung stellen, Vorhersagen erstellen. Es sind Vorhersagen, was in nächster Zukunft eventuell passieren könnte. Diese Vorhersagen haben eine deutlich
lebensverlängernde Wirkung, wenn sie auf Gefahrensituationen aufmerksam machen, so hat sich diese Fähigkeit auch entwickelt: «Achtung, das da in der Ferne könnte ein Löwe sein. Wenn der mir zu nahe kommt, endet das schlecht. Ich sollte einen anderen Weg suchen».

Damit hat sich der Aufwand, sich ein derartig komplexes Gehirn zu leisten, schon gelohnt: Ohne die Vorhersage einer drohenden Gefahr endet das Leben unter Umständen schneller.
Um die Vorhersagen immer weiter zu verfeinern, evaluiert das Gehirn die Vorhersagen.

Tritt nicht das ein, was sich das Gehirn ausgedacht hat, wird es besonders aktiv. Es versucht, heraus zu finden, warum die Vorhersage nicht eingetroffen ist. Daraus ergibt sich wieder neues Wissen, auf dessen Basis die Vorhersagen immer weiter verfeinert werden können. Man kann es auch Erfahrung nennen.

Erfahrene Autofahrer können Gefahren besser einschätzen, erfahrene Piloten meistern auch schwierigste Situationen. Die Basis der Erfahrung ist die ständige Evaluation der Vorhersagen, die das Gehirn trifft.

Vorhersagen zu treffen ist lebensverlängernd


Die Mathematik ist wohl die Königsdisziplin der Vorhersagen: Sie dient dazu, vorherzusagen, was geschehen wird. Welche Menge wird vorhanden sein, wenn mehrere kleinere Mengen zusammenkommen? Ab welchem Gewicht wird eine Brücke instabil? Wo können wir mit einer Weltraumsonde nahe an einem Asteroiden vorbeifliegen, ohne mit ihm zu kollidieren?

Es lässt sich leicht ausmalen, wie weit die Fähigkeit, logische Zusammenhänge zu erkennen, die Menschheit gebracht hat. Das logische Denken ist das Ergebnis der Bemühungen, die Vorhersagen möglichst genau hin zu bekommen.

Die Mathematik hebt die Vorhersagen auf dir Ebene des Abstrakten. Nicht alle Gehirne können diese Abstraktion auf dem gleichen Niveau leisten. Dass es in unserer Kultur Systeme wie die Schriftsprache oder ein Periodensystem der chemischen Elemente gibt, basiert auf der Fähigkeit des Gehirns, abstrakte Zusammenhänge zu erfassen.



Es gibt einige grundlegende Prinzipien, nach denen das Gehirn funktioniert. Das Prinzip der Homöostase ist eines davon. Im Kern geht es darum, dass es uns gut gehen muss, sonst reagiert das Gehirn. Es kann dann Hormone ausschütten, mit denen es unsere Emotionen beeinflusst. Es könnte zum Beispiel Adrenalin ausstossen, was uns direkt in eine Stressreaktion bewegen würde.

Verfolgt man diese Spur weiter, dann landet man bei den Begriffen „Kohärenz“ und „Inkohärenz“, die der deutsche Hirnforscher Gerald Hüther geprägt hat. Das auszubreiten ist Stoff für einen neuen Blogbeitrag. Kohärenz ist für ihn der Zustand, für den für das Gehirn alles stimmt: Das klingt ähnlich wie der Zustand der Homöostase.

Beide Begriffe definieren einen Grundmechanismus im Gehirn: Homöostase herzustellen ist das oberste Ziel. Bei Gerald Hüther heisst es analog, Kohärenz herzustellen sei das oberste Ziel.

Das bedeutet, das Gehirn wird einen schnellen und effektiven Weg suchen, Homöostase oder Kohärenz herzustellen. Nicht der lange, komplizierte Weg, nein der schnelle Weg soll es sein. Energie bereitzustellen für komplizierte Denk- und Entwicklungsarbeit ist für das Gehirn erst mal nicht attraktiv. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man verstehen möchte, wie die Gehirne von Menschen arbeiten.

Ich werde diesem Thema noch einige Beiträge widmen müssen, was so einfach klingt, führt zu weitreichenden Folgen im Verhalten von Menschen.

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